Ortsnamenforschung in der Schweiz – ortsnamen.ch
Die Erforschung der Örtlichkeitsnamen hat in der Schweiz eine lange Tradition. Die historische und rezente Mehrsprachigkeit, die reiche Geschichte der letzten Jahrtausende sowie die vielfältige Geografie und Topografie des Landes haben zu einem interessanten Namenbild in allen Regionen des Landes geführt, das Forscherinnen und Forscher und die weitere Öffentlichkeit seit jeher fasziniert und zu Fragen anregt wie den folgenden:
Zu den ältesten Ortsnamen der Schweiz gehören neben denen der Kelten und Römer (siehe den nächsten Punkt) wohl diejenigen, die keiner eindeutigen Sprachschicht zugeordnet werden können. Sie sind insbesondere «in den alpinen, seit ältester Zeit besiedelten Gebieten in Graubünden, im Wallis und im Tessin besonders zahlreich» (Lexikon der Schweizer Gemeindenamen, Frauenfeld 2005, S. 33), und sie lassen sich heute vielfach nicht mehr deuten. Bei den genannten Regionen «handelt es sich offenbar um Rückzugsgebiete von vorindogermanischen Bevölkerungen, deren Sprachen sich hier noch eine gewisse Zeit halten konnten, bevor sie zuerst vom Keltischen, dann vom Lateinischen und zum Teil, viel später, vom Alemannischen überlagert und assimiliert worden sind» (ebd.). Vgl. etwa die Einträge zu den Ortsnamen Grimisuat, Ladir, Locarno, Samnaun oder Vernate. Die zweifellos älteste Schicht von Namen bilden die sogenannten «alteuropäischen Hydronyme», also die Namen von Fliessgewässern, die keiner europäischen Einzelsprache zugeordnet werden können, aber dennoch aus dem gut rekonstruierten Urindogermanischen erklärt werden können, darunter Namen wie der des Rheins, der Aare (vgl. unter Aarau) oder des Neckers.
Ja, denn mit der Romanisierung des Raums der heutigen Schweiz ab dem 1. Jh. n. Chr. wurden die keltischen Namen nicht einfach ersetzt, sondern lediglich römisch-lateinisch umgeprägt, und die zahlreichen Namen, die die Römer selbst hinterlassen haben, wurden von den später siedelnden Alemannen ebenfalls nur sprachlich der neuen Umwelt angepasst. Prominente keltische Namen sind etwa Avenches, Solothurn, Windisch, Winterthur und Yverdon. Namen, die eindeutig auf die Römer und ihre Sprache zurückgehen, sind Augst, Koblenz, Pfyn oder Pratteln. Sehr viel zahlreicher sind jedoch die Namen, die Elemente aus beiden Sprachen enthalten und aus einer Epoche stammen, als «die keltische Bevölkerung zur Verwendung von lateinischen Personennamen übergegangen ist» (Lexikon der Schweizer Gemeindenamen, Frauenfeld 2005, S. 200): Es sind dies insbesondere die zahlreichen Namen, die auf -ach(t) ausgehen wie etwa Alpnach, Bülach, Küsnacht oder Selzach.
Leider lässt sich bei den meisten Flurnamen der genaue Entstehungszeitpunkt nicht ermitteln, zumal jeder Name ja zunächst einmal ein ganz gewöhnliches, verständliches Wort war. Viele Namen beziehen sich aber tatsächlich auf die früheren, vorindustriellen Lebensumstände, insbesondere in der Landwirtschaft. Davon zeugen Namen, die auf alte Anbau- und Bewirtschaftungsformen (etwa die verbreitete Allmendwirtschaft mit den vielen Allmend-Namen), Abgabetypen (Frächt) oder Besitzverhältnisse (Pfaffematt) sowie die Erschliessung von Land (Rüti) verweisen. Aber auch Streitereien (Spann), Volksfeste (Tanzplatz), Handel (Ortstelli) und Handwerk (Schmitten), Kirche (Chappel) und Frömmigkeit (Helgenflue), das Wehr- und Kriegswesen (Letzi) usw. finden in den Flurnamen ihren Ausdruck.
Aber auch Fragen zu spezifischen Phänomenen stellen sich immer wieder:
Die Ortsnamen, die auf -ikon enden, bestehen in der Regel aus einem Personennamen und einer sehr abgeschliffenen Endung, die in ihrer ursprünglichen Form -inghofen lautete. Das Segment -ing ist ein Wortbildungselement, das Zugehörigkeit signalisiert, das Segment -hofen ist eine alte Dativ-Pluralform des Worts Hof. Die -ikon-Namen «übersetzt» man daher in der Regel nach dem Muster ‚(bei/in) den Höfen der Leute des NN‘ (NN = Namen). Die in althochdeutscher Zeit produktive Endung reduzierte sich in der Folgezeit zu verschiedenen Ausspracheformen, wobei in den Kantonen Zürich, Aargau und Luzern die Varianten -(i)kon, -(i)ken dominieren, in den Kantonen Bern und Solothurn -i(g)kofen. Im Kanton Thurgau treten beide Formen auf. Im westlichen Süddeutschland und in der Nordwestschweiz (Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft) entwickelte sich die Endung zu -(i)ken/-(i)gen und schriftsprachlich häufig zu -ingen. Weitere Informationen unter Adlikon (ZHnb).
Dies ist eines der namenkundlichen Rätsel, das besonders viele phantasiebegabte Exegeten, Verschwörungstheoretiker, Keltenfreunde und Grenzwissenschaftler auf den Plan gerufen hat. Dass sich die Ortsnamen Wohlen, Bremgarten und Muri wiederholen, ist tatsächlich ein interessantes Phänomen, zu den genannten Namen wäre aber auch noch Villmergen zu nennen, das sich im ganz ähnlichen bernischen Vielbringen wiederholt (beide gehen auf einen historisch identischen Ortsnamen *Vilmaringen zurück). Ein ähnliches Phänomen kennt man auch in der luzernisch-aargauischen Ortsnamengruppe Reinach-Beinwil-Aesch-Bettwil, die sich im solothurnisch-basellandschaftlichen Grenzgebiet mit Reinach, Aesch, Bättwil und Beinwil spiegelt. An Zufall zu denken, fällt tatsächlich schwer. Heute weiss man aber, dass dem Gleichklang von Ortsnamen ganz verschiedene Ursachen zugrundeliegen (vgl. zur jüngsten Forschung Kilchmann, Mirjam: Namenzwillinge und -mehrlinge in der Toponymie: Am Beispiel von Deutschschweizer Ortsnamen, in: Namenkundliche Informationen 112 [2020], S. 219-247). Man nimmt aber auch an, dass viele Ortsnamen aufgrund von einfachen Namenübertragungen entstanden, also nicht quasi organisch vor Ort gewachsen sind. In der Entstehungszeit der Orte war die (stark anwachsende) Bevölkerung bekanntlich enorm mobil, und es gibt viele Hinweise auf dauernde Aussiedlerbewegungen von Personengruppen, die vom einen Ort wegzogen und denselben an einem andern Ort neu gründeten. Gelegentlich hat man also davon auszugehen, dass die «doppelten» Orte tatsächlich eine Art Spiegelung darstellen. Dieselbe Besonderheit begegnet einem etwa auch bei den tausendfach gedoppelten Namen in den USA, die eine Reminiszenz der europäischen Aussiedler an ihre einstige Heimat darstellen, so zum Beispiel Dublin in Georgia (USA) und Dublin in Irland (vgl. dazu Gannett, Henry: The Origin of Certain Place Names in the United States, Washington 21905).
In Flurnamen stecken vielerlei Volkswitz und metaphorischer Wortgebrauch. Die Sprache von Bibel, Kirche und Predigt hat in ihrem stets präsenten und oft wiederholten Wortschatz die Menschen auch immer wieder dazu angeregt, Orte zu benennen, die besonders schön, besonders ertragreich oder aber besonders unangenehm, besonders karg waren. Was lag da näher als die abstrakten Vorstellungen von Himmel und Hölle mit irdischen Pendants zu vergleichen? Nicht in jedem Fall bezeichnet Paradies aber ein besonders paradiesisches Fleckchen; nicht jedes Himmelrich ist ein idyllischer Platz: Gelegentlich sind die Namen durchaus ironisch gemeint und benennen Stellen, die eigentlich besser sein könnten. Ab dem 13. Jh. ist Paradies zudem ein häufiger Name von Klöstern der Zisterzienser, Kartäuser, Augustiner und Klarissinnen, so das Kloster Paradies in Schlatt TG. Wo es schon ein Paradies gab, hat der Benennungseifer der Menschen dann aber gerne auch eine Höll (älter auch Hell) danebengestellt (vgl. etwa die nahe beieinander liegenden Flurnamen Paradies in Arisdorf BL und Höll in Liestal BL). Gelegentlich spielt dabei aber weniger die Vorstellung der unwirtlichen Unterwelt im religiösen Sinne eine Rolle als vielmehr eine weitere Verallgemeinerung auf allgemein vertieft gelegene Geländestücke, Schluchten, Täler und Tobel.
Solchen und ähnlichen Fragen geht die philologische Ortsnamenforschung in der Schweiz nach. Sie ist eine linguistische Teildisziplin, die sich mit der Form, der Lautung, der Überlieferung und der Herkunft von Ortsnamen befasst. Sie benutzt dazu ein bewährtes Analyseinstrumentarium, das es ermöglicht, Namen sowohl in ihrer einzelnen Gestalt als auch in ihrer vielfältigen Vernetztheit und in ihrem Gebrauch als sprachliche Zeichen besser zu verstehen. Wenn Sie selber solche oder ähnliche Fragen haben, empfehlen wir Ihnen eine erweiterte Suche in unserer Datensammlung (Anleitung) oder einen Blick in die umfangreiche Literaturliste, die Sie nach Themen oder Regionen konsultieren können.
Wissenschaftliche Ortsamenforschung ist in der Schweiz entsprechend ihrer föderalistischen Tradition dezentral organisiert. An den Universitäten finden zwar regelmässig einschlägige Lehrveranstaltungen zu onomastischen Themen statt. Grössere Forschungsprojekte, die der Erschliessung umfangreicherer Namenräume dienen, wurden bzw. werden jedoch vorwiegend auch an Forschungsstätten in den einzelnen Kantonen durchgeführt. Gefördert werden sie in der Regel durch finanzielle Beiträge des Bundes, der Kantone sowie von privaten Stiftungen. Die kantonalen Forschungsstellen arbeiten alle nach denselben wissenschaftlichen Standards, und die Resultate werden in Datenbanken abgelegt, die einerseits zu gedruckten Namenbüchern führen, andererseits direkt und teils kontinuierlich online veröffentlicht werden. Die Forschungsinfrastruktur ortsnamen.ch ist für diese Form der Veröffentlichung seit gut 15 Jahren die wichtigste Plattform. Sie ist damit keine Konkurrenz zu den «traditionellen» Publikationskanälen, sondern sie bietet verschiedenerlei Mehrwert, der der Ortsnamenforschung – auch über den Raum der Schweiz hinaus – zu neuen Impulsen verhelfen soll. ortsnamen.ch leistet selbst in kleinem Umfang auf Datengewinnung und -präsentation ausgerichtete wissenschaftliche Arbeit. Neben den kantonalen oder regionalen Namenbüchern gibt es auch eine immense Zahl an Einzelstudien zu namenkundlichen Problemen (siehe die laufende Bibliografie). Die Ergebnisse dieser Studien fliessen in die Namenbücher ein und damit auch in die Resultate, die auf ortsnamen.ch publiziert werden.
Historisch-philologische Ortsnamenforschung wäre nicht möglich ohne die Zusammenarbeit mit Partnern. Wesentlich für belastbare Namenerklärungen ist die Dokumentation der historischen Tiefe eines Einzelnamens. Historikerinnen und Historiker, die in gedruckten und vor allem ungedruckten Dokumenten die Namenformen in ihrem Kontext erfassen, tragen wesentlich dazu bei, dass eine spätere linguistische Analyse auch Hand und Fuss hat. Die starke Ortsbezogenheit eines Namens liegt in der Natur der Sache. Um diese jedoch auch sichtbar zu machen, braucht es Karten sowie Geoinformationen. Die Zusammenarbeit mit den Geoinformationsdiensten des Bundes und der Kantone ist darum eine ebenso wichtige wie nützliche Voraussetzung, um Namen und Namentypen zu visualisieren und in ein Netz weitergehender ortsbezogener Informationen einzubinden. Im Gegenzug finden die von den Ortsnamenforscherinnen und -forschern «im Gelände» erhobenen Namen Eingang in die gedruckten oder online verfügbaren Kartenwerke. Seit jeher arbeiten darum Namenforschung und Landesvermessung Hand in Hand, um den Karten die nach Massgabe der jeweiligen Nomenklatur gültigen Namenformen beizugeben.
Eigennamen bilden eine der wenigen echten sprachlichen Universalien, das heisst, sie kommen in allen natürlichen Sprachen vor. Jede Sprache hat Eigennamen, und die enge Beziehung jedes Menschen zu seinem eigenen Personennamen und zu den Örtlichkeitsnamen seines Erfahrungshorizonts «stellt eine anthropologische Grunderfahrung dar» (Friedhelm Debus). Eine Welt ohne Namen, eine Sprache ohne Namen wäre nutzlos. Kommunikation wäre unmöglich. Die Erforschung der Eigennamen ist darum nicht einfach eine akademische Spielerei, sondern sie dient auch dem tieferen Verständnis davon, wie der Mensch sich und seine Umwelt wahrnimmt, wie er sie organisiert und er sie kommunikativ gestaltet – in Gegenwart und Vergangenheit. Die flächendeckende sprachliche Erforschung der Ortsnamen ermöglicht also Einblicke Die aus der Erforschung der Ortsnamen gewonnenen Erkenntnisse klären uns aber auch über weitere Fragen auf, wie: Wenn wir diese und ähnliche Fragen beantworten können: Wem nutzen dann die Antworten? Sicherlich zuerst Linguistinnen und Historikern, in zweiter Linie auch Archäologinnen (etwa im Hinblick auf sogenannte «archäologische Leitnamen»), Rechtswissenschaftlern, Ethnologen, Geologinnen, Religionswissenschaftlerinnen usw. sowie allen an den Erkenntnissen dieser Disziplinen Interessierten. Doch auch die weitere Öffentlichkeit kann von den Antworten profitieren, insofern die Namen vielfach auch praktische Informationen bereithalten zu Fragen der Bodenqualität, von Naturgefahren, von Rechtsverhältnissen usw. Kurz: Wir erforschen also unsere Ortsnamen, weil sie isoliert und im Kollektiv Erkenntnisgewinn versprechen über das Zusammenspiel von Sprache, Raum und Geschichte.